Berlin, Frühjahr Sommer 2024

SA, 17. FEBRUAR 24

Charlie hat sich auf mein Bett gelegt und ich habe meinen Kleiderschrank geöffnet. Alle Türen des Schrankes, weil Charlie es so wollte, bereits fertig für den Club angezogen, ein gutes Outfit. Wenn alle Türen offen sind, ist es wirklich erstaunlich zu sehen, dass mein Kleiderschrank zwei so unterschiedliche Seiten hat. Rechts die Hemden, die Chinos, Sakkos, Krawatten sogar, obwohl es lange her ist, dass ich eine für die Arbeit getragen habe. Links der absolute Fummel, Glitzer, Pailletten, Flügel und ein bisschen Lack. Charlie fragt: Wer bist du eigentlich?

SO, 18. FEBRUAR 24

Das ist natürlich ein Scherz, Charlie weiß schließlich ganz genau, wer ich bin. Besser sogar als andere wahrscheinlich. Zuletzt habe ich mit 14 oder 15 eine Zeit lang Tagebuch geschrieben. In jedem Fall habe ich es vielleicht öfter in meinem Leben bisher versucht, aber nie länger durchgehalten. Es macht nur Sinn dieses Tagebuch an einem Sonntag anzufangen. Es ist Sonntagabend, meine Melancholie befindet sich in den Ausläufen, die Müdigkeit übernimmt. Ich akzeptiere quasi mein Schicksal. Schleuder mich die nächsten fünf Tage wieder so richtig durch, Hamsterrad. Meine Hemden bleiben ungebügelt, aber niemand wird sie unter den Pullovern sehen. Draußen ist es schon wieder dunkel, ich habe mich erfolgreich von Dunkelheit zu Dunkelheit geschlafen. Beinahe. Einmal war ich kurz draußen, weil sich der Körper nach ruhiger Bewegung an frischer Luft, Helligkeit und Vitaminen gesehnt hat, und bekommen hat er Matsch und schneidenden Wind, diffuses Grau und ein Croissant. Aber dieses Croissant war so buttrig und flaumig in meinem Mund, der Blätterteig hat sich so an meinen Gaumen geklebt, dass ich kurz richtig glücklich war. Ich sehne mich nach den warmen, sonnigen Tagen. Im Winter ist diese Sehnsucht mein Hobby. Wie es schon war und wie es wieder sein wird: Im Club die Augen zu öffnen und die Sonne geht gerade auf. Es ist schön, dass in der Theorie der Tag so anfängt, dafür bin ich wirklich dankbar. Diese Erinnerung an letzten Sommer wie ein Wärmekissen: Die Sonne geht auf und wir sind immer noch da. Charlie rekelt sich neben mir und sagt: „Guten Morgen“. Schaut mich verwundert an, sagt: „Das ist neu für mich, im Club einzuschlafen.“ Immer noch im Club sein zu dürfen, was für ein Geschenk. Nicht sich noch mitten in der Nacht nachhause schleichen oder auf irgendeinen anderen privaten Raum ausweichen zu müssen, als wäre man an das Ende der Nacht gebunden wie Dracula oder Cinderella. Ich habe so eine Ahnung, dass es beim Feiern um den Morgen geht, ich kann nur noch nicht wirklich gut beschreiben, warum. Es ist hoffentlich ein Morgen mit Sonnenstrahlen – für den größten Kontrast. So wie dieser in meiner Erinnerung. In der magischen Parallelwelt des Clubs aufzuwachen ist ein Mix aus Gefühlen, ich versuche sie nachzuspüren: Waren es zu 75% Wohligkeit, zu 10% Verwirrtheit (warum und wann bin ich gerade hier eingeschlafen, schnell den Penis wieder unter dem kurzen Röckchen verstauen), zu 5% Schmerz (dieser Körper ist keine 18 mehr), zu 10% Angst (vor der Helligkeit und dem Draußen)? Sind das schon 100%? Ich erinnere mich, wie Charlie gesagt hat: „Als ich aufgehört habe, mich als Frau zu sehen, ist mir doch die Angst geblieben, in der Öffentlichkeit einzuschlafen. Freund*innen von mir hatten Blackouts, sind schlafend Runden in den öffentlichen Verkehrsmitteln gefahren, lagen auf der Parkbank, bis der Rausch vorbei war und ich bin immer brav nachhause und habe mir die Haare gewaschen, damit sie aufhören nach Rauch zu riechen.“ Egal zu welcher Jahreszeit werden wir, wenn wir den Club tagsüber verlassen, mit dem Konflikt des Übergangs zwischen Innen und Außen konfrontiert. Dieses erneute sich „unter das Volk mischen“ ist eine Kunst für sich, sich unter das Samstag- Brunch-Volk zu mischen, unter das Sonntag- Museum-Volk, das Montag-Arbeit-Volk. Wir haben gelernt, uns für den Moment zu rüsten, in dem wir die schützenden Mauern verlassen. Ich komme immer vorbereitet, denn das Draußen ist nicht bereit für mich: lange Hose, Kapuzenpullover, Sonnenbrille (im Sommer). Auf dem Heimweg heute vom Club eine Nachricht von meiner Familie, wann ich mal wieder nachhause komme.

SA, 02. MÄRZ 24

Als ich an diesem Samstag aufwache, weiß ich wieder, wofür ich lebe. Für das Wochenende, ich gebe es zu. Die Arbeit hat mich in den letzten Tagen in ihren Fängen gehalten und ich habe das Safeword vergessen, unangenehm. Don’t cry – work work work work work. Auf meinem Handrücken wäre noch Platz für ein Tattoo, damit ich es nicht vergesse, auf meiner Wange für eine Träne. Ein Blick nach draußen: Ich denke, der Himmel heckt etwas gegen uns aus. Ich stehe wieder vor dem Kleiderschrank und überlege, wer ich sein will. Das letzte Mal mit Charlie im Club war ich Marie Antoinette; eine champagnerfarbene Vintage Korsage, passender Minirock aus Satin, aber jetzt ist meine Stimmung dunkler. Ich fahre zu Charlie, alles dabei für meinen evil-Tinkerbell-Look. Schwarzes Faltenröckchen über der Hose und Latex- Bralette unter dem warmen Pullover. Im Club ist es warm. Es ist Samstag, andere gehen zum Schwitzen in die Sauna. Wir hören uns an, wer dieses Wochenende spielt. Dann Charlies Lieblings-DJ. Dann irgendwen anderes Bekanntes, ein Techno-Urgestein aus Berlin. Zu jung für die unmittelbare Post-Mauerzeit, genau richtig für Regulierung, Kommerzialisierung und Clubsterben. „Du bist richtig pessimistisch heute“, sagt Charlie. Ich lackiere mir noch meine Nägel und denke daran, wie meine Familie einmal beim Anblick meiner lackierten Nägel gefragt hat: „Heißt das, du bist diffus?“ Charlies Inspiration fürs heutige Outfit ist Hunter Schafer bei der Vanity-Fair-After-Party 2022 und ein Influencer auf Instagram in einem grobmaschigen, kaputten Strickpullover und bodenlangen Ann Demeulemeester Rock. Charlie begeistert das Schleifen des Stoffes über den Boden, dark mermaidcore, und verwandelt sich vor meinen Augen in eine dunkle Meerperson. Gel in die Haare, bereit zum Abtauchen, bereit sich in die Wogen zu stürzen. Man wird ja wohl noch träumen dürfen. Slay. „Bist du schonmal nicht reingekommen?“, fragt Charlie. Ja, ist mir schon passiert. Ich erinnere mich, einmal es war nachmittags und dann bin ich eben heim und habe einen sehr guten Film gesehen, aber ich weiß nicht mehr welchen. Viel schlimmer ist es, hineinzukommen und sich nicht wohlzufühlen in der Menge. Z.B. mit zu vielen aufgepumpten Cis-Hetero-Männern ohne T-Shirt, entweder mit Sonnenbrille oder mit einem 360-Grad-Scheinwerfer-Blick, der alle Frauen ableuchtet. Ich persönlich mag die Vorstellung nicht, dass kommerzielle, sexualisierte Nacktheit gleich Techno ist. Ehrlichkeit ist sexy. Heute kommen wir hinein und fühlen uns wohl. Das Motto an einem Samstag ist es, keinen Gedanken an ein Morgen zu verschwenden.

SO, 03. MÄRZ 24

Es folgt ein ungeordneter Strom von Dingen, an die ich auf dem Dancefloor gedacht habe, während ich Eis gegessen habe: Die Architektur, die Gestaltung des Raumes. Traurigkeit, weil ich diesen Ort nie wieder zum ersten Mal sehen werde. Dann, Thermodynamik. Der Versuch nicht über Thermodynamik weiter nachzudenken, weil sich das nach Arbeit anfühlt und das ist ja nicht der Ort dafür. Das Arbeits-Ich habe ich Freitagabend mit dem letzten schmutzigen Hemd in die Ecke geworfen. Das Zitroneneis ist wirklich gut, so zitronig. Dann doch wieder Thermodynamik. Der Club ist ein Raum mit einer offenen Systemgrenze. Semipermeabel. Die Personen an der Tür gestalten die innere Energie U. Es ist schön, hier im Moment zu sein. Keinen Gedanken an ein Morgen. Nicht aufs Handy schauen, nicht dokumentieren. Alle schauen so cute aus in dem blauen Licht und auch so friedlich, obwohl der Bass defibrilliert. Er holt mich wirklich zurück. Unter der Woche untot, jetzt lebendig. Dankbarkeit, dass andere diesen Raum für uns erschlossen haben und wir hier zusammenkommen dürfen. Diesen Raum gilt es zu bewahren. Wer spielt gerade? Es ist richtig gut. Es ist schon Sonntag. In der Theorie ist das Motto an einem Sonntag, keinen Gedanken an ein Morgen zu verschwenden. In der Praxis gibt es keinen Tag wie einen Sonntag, an dem man mehr über das Morgen nachdenkt. Selbst wenn man nicht will, ist es im Hinterkopf, dieses Morgen, ach, dieses entsetzliche Morgen. Ich will nicht jetzt schon traurig sein. Warum ist das Eis schon leer? Zurück bleibt dieser wunderbare Zitronengeschmack auf der Zunge. Jetzt eine Person zu küssen, die Zitrone mag und mich. An mein Tagebuch. Wer bin ich? Ein anderes Mal, als ich mit dem Tagebuch schreiben begonnen habe, da war ich um die 15, nachdem ich zu Halloween das verstaubte Hochzeitskleid meiner Mutter getragen habe und sie nichts davon wusste. Alle sind so hot hier. Was arbeitet ihr? Nein, nicht an Arbeit denken, Dr. Jekyll. Tanzen! Später dann finde ich mich mit wem in der Toilette wieder, und aus der Nachbarkabine höre ich hochziehende Nasen und dazwischen: „God in Heaven.“ „Jesus.“ “Holy Fuck.” „Fuck Jesus oh my god Christ.” „Mary.” Da wird ja die gesamte Liturgie gebetet. Nochmal später taumle ich scheu aus dem Club, die letzte DJ war so gut, die Ohren dröhnen, die Knie schmerzen.

SA, 30. MÄRZ 24

Charlie und ich sitzen in einer gemütlich beleuchteten Bar, also bei Kerzenlicht, zusammen und trinken Wein. Die Tage werden länger, die Sonne zeigt sich immer öfter. Meine Arbeitskolleg*innen fragen, was ich am Wochenende gemacht habe – nichts. Meine Familie fragt sich, was ich die ganze Zeit mache – arbeiten. Und am Wochenende? Kultur. Aber gehst du denn auch mal in die Oper oder ins Konzert, Club ist doch nicht Kultur. Charlie und ich wollen heute einen ruhigen Abend verbringen, uns für morgen aufheben. Ich meine, dass ich es zwar nachvollziehen kann, den Gebrauch dieser ganzen sakralen Vergleiche, zum Club pilgern, zur Kirche, Pillen wie Hostien, aber dass ich diese Betrachtung des Clubs als Tempel gar nicht so wirklich mag und vielleicht auch nicht vollständig richtig finde. Es geht doch um die Hierarchielosigkeit des Raves. Ich meine also, für mich ist der Club etwas Heidnisches, Märchenhaftes. Flucht aus dem Alltag und Zufluchtsort in einem. Es war einmal. Für Charlie ist der Club eine Werkstatt oder ein Atelier. Es ist ein Raum, in dem etwas entsteht, etwas möglich ist. „Während ich tanze, konzipiere ich zu den Beats meine Projekte. Ich nehme die Arbeit mit in den Club. Ich freue mich darauf, meine Gedanken und Ideen mit in den Club zu nehmen und sie dort auszubreiten, zu formen. Die sogenannte Trance. Es klingt vielleicht banal, aber ich schmiede hier.“

MO, 01. APRIL 24

Unter uns die Gleise, ab und zu die S-Bahn. Um uns herum gehen und fahren die Leute zur Arbeit. Kurz habe ich die unregelmäßig aufflammende Angst, es könnte mich wer aus meinem Büro sehen, aber das Büro ist ganz woanders, Berlin ist ja sehr groß und niemand von meinen Arbeitskolleg*innen wohnt hier. Von der Brücke aus werden wir Zeug*innen des Sonnenaufgangs. Wir sind so zu, wir sind bis obenhin zu mit guten Erinnerungen an die letzten Stunden und wir lächeln. Es ist eben der Morgen, dieses innere Nachbeben, darum geht es. Ich genieße es gerade noch, die abgefuckte Fee sein zu dürfen, bevor ich wieder, geduscht und verkleidet, in Meetings sitzen werde. In einer idealen Welt wäre ich – egal jetzt. Ich sage immer Ciao zu mir am Ende des Wochenendes; SEE YOU NEXT WEEKEND.

Autorinneninformation: Mercedes Spannagel studierte Maschinenbau in Wien und lebt zur Zeit in Berlin. Sie erhielt für ihre Texte diverse Preise, u. a. 2014 Exil-Jugendliteraturpreis Wien, Rauriser Förderungspreis 2017, 1. Platz FM4 Wortlaut 2018. Teilnahme an diversen Schreibwerkstätten, zudem zahlreiche Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften, u. a. Mosaik, LICHTUNGEN, Volltext, BELLA triste.

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